
Luxemburger Wort: Donnerstag, den 12. Mai 2022 Die Warte
Einblicke in die Macht der Farben
Bundeskunsthalle Bonn zeigt ,,Farbe ist Programm“
Von Rotger Kindermann
Es ist ein schönes Erlebnis, mal wieder eine Kunstausstellung zu besuchen.
Endlich, nach Monaten der Reduktion und des Verzichts. Die Phantasie beflügeln und sich von der Farbenpracht stimulieren lassen. Doch schon nach wenigen Schritten durch die Ausstellung „Farbe ist Programm“ hält der Betrachter inne, er erblickt auf dem Einband eines Kinderbuches* die Farben Gelb und Blau – und hat zugleich die Bilder vom Krieg in der Ukraine im Kopf diese schrecklichen Bilder von Tod und Zerstörung. Farben sind immer auch Träger von Ideen und Vorstellungen, diese Kombination von Gelb und Blau, das Kolorit der ukrainischen Nationalflagge, strahlt heute eine hohe Symbolwirkung aus, ist Ausdruck von Solidarität und Hilfsbereitschaft. Die Tragweite von Farben wird hier anschaulich.
Viele Antworten zum Wesen der Farbe
Mit Farbe als Medium und ihrer künstlerischen, programmatischen und politischen Dimension befasst sich die Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle. Wie sehr Farben politisch einordnen, ist uns allseits bewusst: Braun steht für rechtsradikal, Rot für sozialistisch/sozialdemokratisch, Schwarz für konservativ oder Grün für umweltpolitisch. Aber es existieren auch völlig andere Sichtweisen, wie die des bekannten Anthroposophen Rudolf Steiner. 1921 sagte er einem Vortrag zum Thema „Das Wesen der Farbe“: ,,Rot ist der Glanz des Lebens. – Schwarz ist das geistige Bild der Toten. – Grün ist das tote Bild des Lebens“. Solch unterschiedliche Klassifizierungen lassen nur eine Schlussfolgerung zu: Jedes Bild, jede Installation auf dieser Ausstellung muss für sich gesehen und verstanden werden. So kann der Betrachter die Macht der Farbe unbefangen auf sich wirken lassen.
Anhand von 50 bedeutsamen, meist zeitgenössischen und einigen kunsthistorischen Exponaten aus 150 Jahren zeigt die Bundeskunsthalle den wachsenden Einfluss von Farbe bis heute. Zeitlich beginnt die Ausstellung bei den ersten Farbfotografien und einem der ersten handkolorierten Filme. Zu sehen ist das berühmte Experiment des schottischen Physikers James Clerk Maxwell, der anlässlich eines Vortrages über die Farbwahrnehmung erstmals das Prinzip der additiven Farbmischung in Form einer Projektion durch rotes, blaues und grünes Licht bewies. Die fotografisch-filmischen Projekte führen bis zu dem Tag, als Farbe erstmals in Deutschland das TV-Programm eroberte. Am 25. August 1967 drückte der damalige deutsche Vizekanzler Willy Brandt auf einen großen roten Knopf um das farbige Fernsehzeitalter zu eröffnen.
Beeindruckend ist das breite Kaleidoskop, mit dem das Thema in den Blick genommen wird. Die künstlerische Auseinandersetzung mit der Wirkkraft von Farbe beginnt im Foyer der Bundeskunsthalle. Farbig bedruckte Tücher des kürzlich verstorbenen US-Konzeptkünstlers Lawrence Weiner schweben über den Köpfen und provozieren mit klaren Aufrufen – wie: „Color without objects – color alone“. Ist Farbe also das wirksame Mittel, um künstlerischer Subjektivität Ausdruck zu verleihen? Insbesondere in der Malerei hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Farbe eine Eigenständigkeit erhalten, deren Wirkung sich in den ausgestellten Werken zeigt.
Da sind die Arbeiten von Ethel Adnan (1925-2021), die von der Schönheit der Welt erzählen und von der „Unschuld der Farbe“. Oder das Experiment „Woman and Smoke“ der Amerikanerin Judy Chicago, eine Pionierin für feministische Kunst. Sie filmt junge Frauen in einem Wüstengebiet, die in künstlich erzeugten Farbwolken tanzen. So werden ihre bunten Körper zu Gemälden in einer trostlosen Landschaft. Eine Inszenierung, die einem psychedelischen Trip gleichkommt und zum Mitmachen einlädt. Im Werk des jungen deutschen Malers Carsten Fock wird Farbe zum meditativen Raumerlebnis. Das Violett als Symbol der Besinnung, der Ruhe und inneren Einkehr beherrscht die Wandflächen. Eine vergleichbar kontemplative Wahrnehmung gilt für das frische, duftende weiße Blumenbouquet von Willem de Rooij, das im abgedunkelten Ambiente wie eine elegante Augenweide anmutet. Ein Anblick der jeden trübsinnigen Gedanken beiseiteschiebt.

(c) VG Bild-Kunst Bonn 2022, Courtesy Privatsammlung Köln
Farbe – immer öfter ein Bekenntnis
Die Ausstellung präsentiert darüber hinaus aktuelles künstlerisches Schaffen, das Farbe verwendet, um Machtverhältnisse und Wirtschaftsinteressen hervorzuheben und zu hinterfragen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Künstler*innen Farbe immer stärker eingesetzt, um Identität und Diversität hervorzuheben. Ein typisches Beispiel ist das Farbspektrum der Regenbogenflagge, mit der ein gesellschaftspolitisches Bekenntnis dokumentiert wird. Die Verwendung von Farbe in der „schönen Markenwelt“ wird eher am Rande thematisiert, die sog. ökonomischen Farbsysteme und
-kombinationen – von Nivea bis IKEA. Wenn es zutrifft, dass 85 Prozent der Käufer eines Produkts die Farbe als Hauptgrund für ihre Kaufentscheidung nennen, könnte die Ausstellung diesen farbpsychologischen Aspekten mehr Raum widmen. Die Verwendung von Farben kann auch weniger redliche Zwecke verfolgen – von der gezielten Manipulation bis zur Tarnung.
Die gesamte Ausstellungsarchitektur beeindruckt durch eine durchlässige Struktur mit vielen Durchblicken und möglichen Wegen. Sie stellt zugleich sicher, dass jedes ausgestellte Werk auch die Platzierung aller anderen Elemente beeinflusst. Dieser freie, nicht geleitete Parcours durch die riesige Ausstellungshalle sei ein bewusster Teil der Inszenierung, sagt Liam Gillick, britischer Künstler und einer der Kuratoren, „die sicherstellt, dass wir keine universelle Ausstellung produzieren, sondern einen Essay – einen ,Teil Eins‘.“ Dazu kamen alle Kurator*innen der Bonner Bundeskunsthalle zu Austausch und Diskussion zusammen. Das legt die Vermutung nahe, dass in dieser Runde bereits über einen zweiten Teil nachgedacht wird. Eine Weiterführung scheint allein aufgrund der Fülle des Themas angebracht.
* Kinderbuch „Das kleine Blau und das kleine Gelb“,
von Leo Leonni, Verlag Oetinger, 48 Seiten
Bis 8. August in der Bundeskunsthalle in Bonn, Eintritt 11 Euro, ermäßigt 7 Euro, freier Eintritt bis einschl. 18 Jahre, www.bundeskunsthalle.de
Luxemburger Wort: Donnerstag, den 02. Dezember 2021 Die Warte
Expressionistisches Farbenspiel
Das Von-der-Heydt Museum in Wuppertal zeigt ,,Brücke“ und ,,Blauer Reiter“
Von Rotger Kindermann
Das Von der Heydt-Museum, inmitten der Wuppertal« Fußgängerzone, ist ein mächtiges Gebäude aus der Zeit des Klassizismus. Im Verlauf der letzten Jahrzehnte wurden hier immer wieder spektakuläre Ausstellungen gezeigt, es gehört heute zu den ersten Adressen in der deutschen Museumslandschaft. Gelungen ist dies durch zahlreiche Kooperationen mit anderen Museen, deren Sammlungen sich ergänzten und so neue Blickwinkel auf eine Kunstepoche erlaubten, Das gilt auch für die aktuelle Ausstellung „Brücke und Blauer Reiter“, in der diese beiden expressionistischen Künstlergruppen im direkten Vergleich zusammentreffen. Wie die Idee dazu – im Kontakt mit dem Museum Buchheim in Bernried am Starnberger See und der Kunstsammlung Chemnitz – entstand, schildert Museumsdirektor Dr. Roland Mönig so: „Alle drei Häuser hüten hochrangige Sammlungen zum deutschen Expressionismus. Angesledelt an weit voneinander entfernten Orten im Süden, Westen und Osten der Republik tun sie sich zusammen, um ein Schlüsselthema der Kunstgeschichte darzustellen. Das mussten wir einfach machen“

Vorreiter eines neuen Sehens
Eine Zusammenschau von „Brücke“ und „Blauem Reiter“ hat es zuletzt vor 25 Jahren gegeben. Sie war also überfällig und sie ist in Wuppertal gut gelungen. Im Fokus steht dabei die revolutionäre Kernzeit des Expressionismus von 1905 bis 1914, also von der Gründung der „Brücke“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Beide Künstlergruppen verstanden sich als Vorreiter eines neuen Sehens und Denkens, aber es gab auch Unterschiede – nicht nur bei künstlerischen Sicht weisen und Themenwahl. So war die „Brücke“ im strengen Wortsinn eine Künstlergruppe, die von vier Architekturstudenten (Fritz Bleyl, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff) in Dresden gegründet wurde und Später nach Berlin zog. Man malte zusammen, man organisierte gemeinsam Ausstellungen, war freundschaftlich verbunden. Der Name „Blauer Reiter“ dagegen basiert auf einem Buchtitel, eine Arbeit von Franz Marc und Wassily Kandinsky über aktuelle Entwicklungen im Bereich Kunst und Kultur. Es handelte sich dabei eher um eine lockere Formation, hervorgegangen aus der Neuen Künstlervereinigung München (N.K.V.M), mit wechselnden Teilnehmern, zu der auch Komponisten und Kunstkritiker gehörten. Beide Gruppen kannten einander, schätzten und verachteten sich auch bisweilen. Sie stellten gelegentlich sogar miteinander aus, hatten die dieselben Galeristen und Sammler.

Gemeinsamkeiten und Kontraste
Im Von-der-Heydt-Museum wird durch die Auswahl an Werken der Spannungsbogen zwischen den beiden Gruppen sichtbar, wie sie sich einerseits als Kontrapunkte zueinander verhalten, aber auch wie ein künstlerischer Gleichklang herrscht. Auffällig sind die Kontraste zwischen „Brücke“ und „Blauem Reiter“ im Umgang mit der Gattung Portrait. Während Erich Heckel bei der Inszenierung seines Freundes Pechstein dessen physische Präsenz hervorhebt, umgibt Gabriele Münter ihren Lebensgefährten Kandinsky mit einer intellektuellen Aura. Für die unterschiedlichen Betrachtungsweisen stehen auch zwei Aktbilder. Sie muten in Form und Stil zunächst fast gleich an: zwei üppige Nackte erscheinen bildfüllend und farbenprächtig. Doch während Ernst Ludwig Kirchner („Brücke“) pralle Erotik damit ausdrückt, hat der Betrachter bei Franz Marc („Blauer Reiter“) eher den Eindruck von Intimität und Vertrautheit. Mehr Übereinstimmung besteht bei der Wahl der Motive, von der quirligen Großstadt-Szene bis zum Landschaftsbild, das den Wunsch nach einem freien, unbeschwerten Leben in der Natur ausdrückt.

Erbslöh als Wegbereiter
Die Ausstellung hat ihren Schwerpunkt eindeutig bei Gemälden, die größtenteils aus den drei Sammlungen stammen und klug miteinander kombiniert wurden. Nahezu allgegenwärtig sind kraftvolle Farben und scharfe Konturen, in ihrer Radikalität typisch für diese Kunstrichtung. Die üppigen Farbgewitter Emil Noldes, Max Pechsteins leuchtendes Südsee-Paradies, Franz Marcs Alpenszene, die an eine Industrielandschaft erinnert, oder Kirchners ‚Frauen auf der Straße“ ziehen die Besucher in ihren Bann. Für viele Künstler der beiden Gruppen spielen auch grafische Techniken eine wichtige Rolle. Münters Farblinolschnitte zeugen von der Auseinandersetzung mit Jugendstil und Symbolismus. Die Holzschnitte von Franz Marc aus der Schaffensphase, in der seine bekannten Tierbilder entstehen, bestechen durch Klarheit und Schwarz-weiß-Kontraste. Auf einer Expressionismus-Ausstellung in Wuppertal dürfen natürlich Werke von Adolf Erbslöh nicht fehlen. Ihm ist es zu verdanken, dass diese neue Kunstströmung schon früh im Tal der Wupper Beachtung fand. Denn dieser im damaligen Barmen‘, aufgewachsene Maler hatte die Neue Künstlervereinigung München mitbegründet und bereits 1910 eine Ausstellung des Vereins ins städtische Museum Elberfeld vermittelt, die später auch in der Kunsthalle Barmen gezeigt wurde, und viel Aufsehen erregte.

81×105 cm, Von-der-Heydt-Museum Wuppertal
Ein Geist von Aufbruch
Der Ausstellung gelingt es nicht nur das künstlerische Spektrum von ‚Brücke“ und ‚Blauem Reiter“ umfassend abzubilden, es werden zugleich die Einflüsse der „Väter der Moderne“ gezeigt. Vincent van Gogh, Paul Gauguin, und Paul Cdzanne sind als prominente Wahlverwandte und Wegbereiter des deutschen Expressionismus vertreten. Auch der Kubismus – Pablo Picasso und Jean Metzinger als Beispiele – war für ‚Brücke“ und ‚Blauer Reiter“ gleichermaßen ein wichtiger Bezugspunkt. Insgesamt wurden 160 Hauptwerke von 31 Künstlern ausgewählt, davon 90 Gemälde und 70 Arbeiten auf Papier. Einige sind Leihgaben aus international renommierten Häusern wie dein Stedelijk Museum in Amsterdam. Diese gelungene Zusammenarbeit erfreut Kurator Dr. Mönig ganz besonders, bezeichnet er doch den Expressionismus als seine Leidenschaft und sagt: „Bis heute spürt man die Energie in den Arbeiten dieser Künstler – eine Frische und einen Geist von Aufbruch und Neubeginn, der ansteckend wirkt. Sie haben Konventionen gesprengt und eine neue Vorstellung von Kunst begründet.“ Da bleibt nur die Hoffnung, dass die Anziehungskraft dieser Ausstellung in Zeiten der Pandemie noch lange währt und das Museum die Schau wie geplant bis zum 27. Februar 2022 zeigen kann.
Der Stadtname Wuppertal entstand erst 1929 nach der Zusammenlegung von Elberfdd, Barmen und weiteren kreisfreien Städten.
Luxemburger Wort: Donnerstag, den 17. Juni 2021 Die Warte
Belgische Kunst:
Das Kunstmuseum am Meer, wie sich das Mu.Zee in Ostende nennt, will künftig seine gewaltige Sammlung visueller Ktmst aus Belgien seit 1880 nicht nur verwalten, sondern auch zeigen.
Mu.Zee einst Kaufhaus, jetzt Museum, Eine neue Heimat für „belgische Kunst“
Von Rotger Kindermann

Fotos: Steven Decroos
Ein kleiner Bildband lässt seine Betrachter schmunzeln und zugleich staunen. „Belgien Solutions“ heißt das Buch, die Fotografien zeigen, wie man in Belgien mit geringem Aufwand improvisiert, Komplikationen auf Straßen oder an Gebäuden kreativ umgeht, stets zu ungewöhnlichen, mitunter radikalen Lösungen bereit ist. Als in Ostende 1981 die Erfolgsgeschichte eines Kaufhauses der ehemals größten belgischen Genossenschaft S.O.E. (Spaarzaamheid Economie Oostende) zu Ende ging, wurde eine „belgian solution“ gesucht. Wie kann man ein Warenhaus mit einer riesigen Verkaufsfläche auf drei Stockwerken anderweitig nutzen? Abriss und Neubau, Umbau zu Büroetagen – alles aufwendige und riskante Pläne. Fünf Jahre später war die kreative Lösung gefunden, und es öffneten sich die Türen zu einem Museum. Das Provinzialmuseum für moderne Kunst (PMMK) hatte eine neue Heimat gefunden.
„Stoffenverkoop“, so ist die große Wandzeichnung im Eingangsbereich übertitelt, der einzige verbliebene Hinweis darauf, dass hier einmal Textilien, Möbel, Kühlschränke und Spielwaren verkauft wurden. Die Architektur des zwischen 1950 und 55 erbauten Hauses kann fraglos als zukunftsweisend bezeichnet werden. Helles Tageslicht dringt durch die riesige Glasfront in alte Stockwerke. Eine beeindruckende Räumlichkeit entsteht aufgrund der hohen Geschosse, die seitlichen Balkone bieten unerwartete Blicke auf die 200 Kunstwerke und gegenüberliegenden Häuserfassaden. Durch die Demontage nicht tragender Wandsegmente wurden neue Sichtlinien geschaffen. Die Wandlung vom Kaufhaus zum Museum ist mit wenigen baulichen Eingriffen gut gelungen.
Nicht mehr versteckt im Depot
Nach der Zusammenlegung des PMMK mit dem Museum der schönen Künste schlug im Jahr 2008 die Geburtsstunde des neuen Museums unter dem Namen „Mu.Zee“. Und in Folge der Corona geschuldeten Zwangsschließung ist nun wieder der Zeitpunkt für einen Neustart gekommen. Das Kunstmuseum am Meer, wie sich das Mu.Zee auf seiner Homepage nennt, wird künftig seine gewaltige Sammlung (über 2 000 Werke) visueller Kunst aus Belgien seit 1880 nicht nur verwalten, sondern auch zeigen und „nicht mehr im Depot verstecken“, betont die neue Museumsdirektorin Dominique Savelkoul. Denn kein anderes belgisches Museum habe sich so klar auf das Sammeln von Werken von Künstlern aus Belgien fokussiert. Es gehe auch um eine historische Übersicht.
Dabei ist die Frage unausweichlich, ob der Begriff „belgische Kunst“ zu leicht missverstanden werden kann, weil diese nationale Kategorie kaum im Einklang mit dem globalen Anspruch von Kunst steht. Künstler agieren heute in internationalen Netzwerken und verstehen sich als Repräsentanten bestimmter Stilrichtungen. Doch das sieht Wouter Davidts von der Universität Gent, ein Berater des Mu.ZeeKonzepts, anders: „Diese Präsentation könnte man als Apell für mehr Aufmerksamkeit und Pflege für die Geschichte der in Belgien entstandenen Kunst verstehen.“ Es bleibe noch eine Menge zu tun, um die Wertschätzung für diese Kunst zu steigern. Immer wieder mal wird thematisiert, ob die Bildung der Nation (1830 Staatsgründung) auch zu einer eigenen belgischen Kunst-Identität geführt habe. Ein gewisser Trend zur Abgrenzung war zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus erkennbar. Junge Talente zwischen Ostende und Lüttich lehnten es ab. sich einer Kunstbewegung – etwa dem deutschen Expressionismus oder dem französischen Fauvismus – anzuschließen.
Ein Ort der Inspiration
Dabei besteht kein Zweifel, dass das junge Königreich große Künstlerpersönlichkeiten hervorgebracht hat. Besonders zu nennen sind die beiden „Ostende-gebürtigen“ Künstler James Ensor (1860-1949) sind Leon Spilliaert (18911946), die beide im Mu.Zee ihren festen Platz haben. Schon früh wurde Ensor das Etikett „Maler der Masken‘ verliehen, doch sein Werk ist weitaus vielfältiger. Ensors Bilder vereinen heilere und düstere Elemente, sein Werk reicht
von Landschaften über Stillleben bis hin zu christlichen Motiven.
Dominique Savelkoul ist besonders dankbar, dass das Königliche Museum für die Schönen Künste in Antwerpen dem Mu.Zee 26 Gemälde von Ensor als langfristige Leihgabe zur Verfügung gestellt hat. Außerdem sollen alle drei Monate wechselnde Ensembles mit Zeichnungen ausgestellt werden. Auch Lion Spilliaert erweckte mit seinen Malereien und Aquarellen schon früh internationales Interesse. In seinen Arbeiten suchte er nach hellen, kontrastreichen Farben und er schematisierte und vereinfachte die Formen immer weiter. Exemplarisch dafür steht das im Mu.Zee gezeigte Bild „Schwindel‘ (1908). Als Spilliaert zwei Jahrzehnte nach Ensor in Ostende zur Welt kam, hatte sich die Stadt im Eiltempo vom kleinen Fischerdorf zum mondänen Badeort gewandelt. Leopold 1., Belgiens erster König, wählte den Küstenort als Sommerresidenz, die königliche Entourage und wohlhabende Kaufleute ließen sich an der Strandpromenade nieder. Und natürlich inspirierte dieser Wandel beide Künstleraber ebenso das außergewöhnliehe Licht und der einmalige Rhythmus des Meeres.
Ambitionierter Anspruch
Eine beachtliche Zahl anderer Werke namhafter Künstler – wie des Surrealisten René Magritte oder von Raoul De Keyser, einem Vertreter der Abstrakten Malerei – beherbergt das ehemalige Kaufhaus. Dazu eine stattliche Sammlung von Skulpturen, Illustrationen und Zeichnungen – eine bewusst subjektive Präsentation, die nicht nach Vollständigkeit strebt, wie die Direktorin ausdrücklich unterstreicht. Die neue Konzeption hat das junge – vorwiegend weibliche – Team des Museums in nur vier Monaten zusammengestellt, nachdem der Zeitpunkt der Wiedereröffnung feststand. Unvermeidliche Umbauten wurden in Rekordzeit gestemmt. Wohl wissend, dass diese Maßnahmen nur provisorischen Charakter haben, weil 2024 die großen Renovierungsarbeiten beginnen sollen. Aber man wollte die Sammlung so schnell wie möglich wieder mit der Öffentlichkeit teilen und ein breites Publikum erreichen.
Klares Ziel ist dabei, alle Gesellschaftsschichten als Besucher zu gewinnen, auch solche, die bisher von Kunst keinerlei Notiz nehmen. ,,Für sie wollen wir unsere Türen jeden dritten Mittwoch im Monat gebührenfrei öffnen“, sagt Direktorin Savelkoul und hofft auf weitere Förderer. Ihr Anspruch ist durchaus ambitioniert: Mu.Zee möchte ein Museum mit zutiefst menschlichem Charakter sein, mit dem freundlichsten Empfang des Landes. Es hat den Anschein. dass die soziale genossenschaftliche Idee des alten Kaufhauses nicht völlig in Vergessenheit geraten ist.
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Geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 1730 Uhr. Eintrittspreise für Einzelpersonen von 26 bis 64 Jahre zwölf Euro, ab 65 Jahre und für Gruppen zehn Euro, Jugendliche 13 bis 25 Jahre ein Euro. Kinder bis zwölf Jahren frei. www.muzee.be
Wer Leben und Werk von James Ensor genauer entdecken will, sollte das Ensor-Haus In Ostende (sein Wohnhaus, Atelier und interaktives Erlebniszentrum) besuchen. Kontakt: Info@jarnesensorhuis.be.
Auch die Kunsthalle Mannheim (kuma.art) widmet derzeit James Ensor eine Sonderausstellung. Noch bis 1. Oktober 2021
Belgian Seluliens von David Helbich, Hrsg. MediuMER, B9000 Gent
Die Sammelrichtlinie von Mu.Zee ist eine Besonderheit. Über Jahre hinweg wurden ausschließlich Werke von belgischen Künstlern gesammelt. Seit 2010 wurde dies aul Werke von Künstlern ausgeweitet, die in Belgien leben und arbeiten und keine belgische Staatsbürgerschalt besitzen.
Luxemburger Wort: Donnerstag, den 14. Januar 2021 Die Warte, Donnerstag, den 14. Januar 2021
Als das Proletariat zum Sujet der Kunst wurde
Wuppertal würdigt Engels mit „Vision und Schrecken der Moderne“
Von Rotger Kindermann
Das sagt Antje Birthälmer, und versucht dabei, ihre Enttäuschung hinter einem Lächeln zu verbergen. Sie ist Kuratorin der Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die das Wuppertaler Von der Heydt-Museum zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels zeigt. Oder zeigcn wollte, Seit die Museen am 2. November in Deutschland schließen mussten, schlummern die 152 Kunstwerke, Gemälde, Grafiken und Skulpturen hinter den dicken Mauern des klassizistischen Bauwerks. Nun hofft Birthälmer, dass man Anfang Februar wieder öffnen kann: „Irgendwann muss ja auch dieser Lockdown beendet werden“. Die Ausstellung könnte dann noch bis Ende März oder auch länger gezeigt werden. Die Museumsleitung bemüht sich intensiv, die Fristen Für Leihgaben zu verlängern, und glücklicherweise stammen fast 65 Prozent der gezeigten Exponate aus eigenen Beständen. „Es ist ein herausragender Stadtschatz, den wir hier sichtbar machen wollten und ein spannender Beitrag zum Engetsjahr 2020″, betont die Kuratorin,
Die Misere der Arbeitswelt
Das mit der industriellen Revolution entstandene Wirtschaftssystem des Kapitalismus, dessen Auswirkungen Engels kritisch analysierte, hat zu technischen Fortschritten aber auch zu schweren sozialen Konflikten geführt. Diese Gegensätze wurden damals von der Kunst eindrucksvoll reflektiert und bilden jetzt in der Wuppertaler Präsentation einen starken Kontrast. Hier im Tal der Wupper, in der Stadt Barmen, wurde Engels 1820 geboren, hier lebte er die meiste Zeit bis zu seinem Umzug nach London im Jahr 1870, hier wurde er als Gesellschaftstheoretiker und Revolutionär beeinflusst. (Wuppertal als Stadtname entstand 1929 durch Zusammenlegung mit Nachbarstädten.)
Seit dem frühen l9. Jahrhundert war dieser Talkessel ein Zentrum der Textilwirtschaft und damit ein Ausgangspunkt der Industrialisierung. So beginnt die Ausstellung mit Stadtansichten aus dieser Zeit, sie zeigen riesige Fabriken, rauchende Schlote, Industrieanlagen, die wie mächtige Festungen aus der Landschaft ragen. Kolosse aus Stahl verdrängen die Natur – besonders im Ruhrgebiet. Gezeigt werden Werke von Malern, die sich von der neuen, industrialisierten Welt einfach faszinieren ließen. Und es gab andere, die unmittelbar in die grauen Gesichter der Lohnabhängigen blickten, Dort, hinter dem Mauerwerk einer Fabrikanlage, umgeben von Glut und Hitze, schuften „Die Krupp’schen Teufel“, so der Titel eines Ölbildes von Heinrich Kley. Zunehmend mehr


Künstler thematisierten die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Eindrucksvoll beschreibt das großformatige Gemälde „Arbeiterinnen“ von Hans Baluschek, einem Vertreter des kritischen Realismus, die Misere und Monotonie der Arbeitswelt. Es stellt Frauen als Bestandteil einer Menge dar, die „durch endlose Schufterei zu entindividualisierten Typen“ wurden.
Ein geschönter Blick
Andererseits entsteht durch die industrielle Dynamik ein wohlhabendes und selbstbewusstes Wirtschaftsbürgertum. Wer dazu gehörte, ließ sich gerne von Heinrich Christoph Kolbe, einem Kunstmaler aus Düsseldorf, porträtieren. Diese andere Perspektive der Gesellschaft zeigen die ausgestellten Porträts, die den wachsenden Wohlstand der Kaufmannsfamilien im Tal der Wupper dokumentieren. Einige Künstler der Düsseldorfer Malerschule verdingten sich in der zweiten I Hälfte des 19. Jahrhunderts als Porträtmaler und fanden so in den nahe gelegenen Industrieregionen ihr Auskommen. Dieser „geschönte Blick“ und die mehr kommerzielle Ausrichtung der Kunst wird von der Ausstellung in gleicher Weise abgebildet. So wird der Betrachter auf eine Reise mitgenommen, die zeigt, wie sich gesellschaftliche Umbrüche in der Kunst widerspiegeln.
Kunst wird zur „Rebellion“
Die Visionen eines Friedrich Engels haben zweifelsohne Gesellschaft und Politik ebenso nachhaltig wie dauerhaft beeinflusst. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wurde das Proletariat zu einem Sujet der Kunst, wie Antje Birthälmers Beitrag im Begleitkatalog zur Ausstellung beschreibt. Diese „Rebellion“ engagierter Künstler verschärfte sich mit dem ersten Weltkrieg, der als unheilvolle Allianz aus Industrie und Militarismus eine zeitgeschichtliche Zäsur markierte. Wie Kunst mehr und mehr politisch agierte, veranschaulichen u.a. die expressionistischen Arbeiten von Conrad Felixmüller. Not und Elend der Nachkriegszeit hat Max Beckmann eindringlich dargestellt. Andere, wie die Gruppe der „Kölner Progressiven“, begegneten dem aufkeimenden Faschismus und Nationalismus mit Satire und scharfer Sozialkritik. Oder sie stellten die Kunst in den Dienst einer humanistischen Utopie. Die Nähe zum Gesellschaftsverständnis von Engels springt ins Auge, auch wenn Utopien, wie die Künstler selbst erkannten, oft trügerisch sind.
Geist einer neuen Zeit
Ein eigenes Kapitel innerhalb der Ausstellung bildet die Fotografie der Industriearchitektur: Von ihrer Entdeckung abbildungswürdiger Bauten und Gegenstände in den 1020er Jahren durch Fotografen wie Eugen Balz, in dessen Werken sich der Geist einer neuen Zeit ausdrückt, erlebt der Besucher den Wandel fotografischer Dokumentation in einer ganzen Industrieepoche. Fotos von Bahnhöfen der Wuppertaler Schwebehahn führen zurück zum Ursprungsort des Themas. Diese geniale – und weltweit einmalige – Konstruktion einer über dem Fluss schwebenden Bahn steht noch heute für industriellen Aufbruch und war bei ihrer Fertigstellung im Jahr 1901 die gelungene Verwirklichung einer „Vision der Moderne.
Info Am 28. November wollte Wuppertal den 200. Geburtstag von Friedrich Engels feiern. Das Von der Heydt-Museum hatte zur festlichen Kreativ-Aktion eingeladen, musste jedoch Corona bedingt absagen. Museumsdirektor Dr. Roland Mönig hält aktuell ,ein komplettes Herunterfahren des öffentlichen Lebens für wichtig und sinnvoll“, obwohl man die Hygienevorgaben stets vorbildlich umgesetzt habe. Das Museum ist bis zum 31. Januar 2021 geschlossen. Noch gibt es keinen Zeitpunkt für eine Neueröffnung. www.von-der-heydtmuseum.de |
Donnerstag, den 29 Oktober 2020 Die Warte | Luxemburger Wort |
Provokationen mit dem menschlichen Körper
Die Bundeskunsthalle Bonn zeigt Max Klingers Werk
Von Rotger Kindermann
So war das nicht geplant: Das Beethovenfest zum 250. Geburtstag des Komponisten musste die Stadt Bonn bis zum August nächsten Jahres verschieben. Beethovens Musik zu hören, das wurde wegen des Pandemie-Risikos abgesagt – aber ihn betrachten, das macht die Bonner Bundeskunsthalle jetzt möglich. Dort steht die monumentale, fünf Tonnen schwere Skulptur, die Max Klinger 1902 zu seiner Verehrung vollendet hat. Auch mit diesem Künstler verbindet sich ein Jubiläum: Bonn, die Geburtsstadt Beethovens, würdigt Klinger (,1857-1920) zu seinem hundertsten Todestag. Dieser Pionier des deutschen Symbolismus gehörte seinerzeit zu den bekanntesten, aber auch umstrittenen Künstlerpersönlichkeiten. Der Symbolismus prägte die Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Er erhob die Vorstellungskraft zur wichtigsten Quelle der Kreativität. Beliebtes Thema des Symbolismus war die Verbindung von Erotik und Tod.
Beethoven als Göttergestalt
In Klingers Gesamtwerk nimmt die halb nackte Beethoven-Figur eine Schlüsselrolle ein. Sie markiert den Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere. Es dauerte 17 lange Jahre, bis das Werk fertiggestellt war – angefangen von einer ersten Idee, die beim Klavierspiel im Pariser Atelier entstand, über die Anfertigung eines Gipsmodells bis zur Vollendung der Skulptur aus verschiedenen Marmorarten, Alabaster, Metallteilen und Elfenbeinschnitzereien. Dunkle Farbtöne lassen die Figur noch massiger wirken. Da thront der Musiktitan mit geballter Faust, gedankenschwer beugt er sich nach vorn und blickt auf den Adler zu seinen Füßen. Ein der Zeit enthobenes Genie oder doch eher Göttergestalt? War das Klingers Vorstellung?
Mit diesem Monumentalwerk avancierte der Leipziger Künstler – bis dahin hauptsächlich mit Radierungen bekannt – zum großen Bildhauer. Die Präsentation der Beethoven-Skulptur auf der XIV. Ausstellung der Wiener Secession (1902) verschaffte ihm internationale Aufmerksamkeit. ‚Niemals zuvor hat ein einzelnes Kunstwerk hier so die ganze Bevölkerung in Bewegung gebracht“, schrieb damals ein Kritiker. Doch die Wiener wollten das Komponistendenkmal nicht behalten, obwohl Beethoven seit 1792 hier gelebt hat. Vermutlich war es ihnen zu avantgardistisch. Auch Klingers Freundschaft mit Gustav Klimt war nicht hilfreich. Folglich wurde das Werk zunächst in Düsseldorf und Berlin gezeigt und gelangte schließlich nach Leipzig, wo es heute im Museum der bildenden Künste einen angemessenen Platz gefunden hat. Nun wurde die Skulptur nach langer Zeit mal wieder ausgeliehen zusammen mit anderen Klinger-Arbeiten. Über 200 Werke aus allen Schaffensbereichen Klingers werden an der Bonner Museumsmeile gezeigt, sein Werk umfasst neben Gemälden und Skulpturen eine reiche grafische Sammlung. Beim Betrachten wird deutlich, dass Klinger ‚durch und durch Europäer war“, wie Kuratorin Agnieszka Lulinska feststellt, Er bereiste Italien gleich mehrfach und ließ sich u. a. in Spanien, Frankreich oder Griechenland inspirieren. Dabei war er stets auf der Suche nach Marmorgestein, das er für seinen monumentalen Beethoven verwenden konnte. Häufig reiste Klinger für längere Zeit nach Paris, wo er sich mit Auguste Rodin anfreundete und mit dem ihn eine Art Seelenverwandtschaft verband. Beide Bildhauer stellen den menschlichen Körper in seiner natürlichen Nacktheit in den Mittelpunkt ihrer Kunst. „Die Sinnlichkeit ist ein Grundpfeiler des künstlerischen Wesens“, schrieb Klinger aus Paris. In vielen seiner Skulpturen aus der Zeit um die Jahrhundertwende finden wir Rodins Stilelemente wie seine ausgeprägte Modellierung der Körper wieder.
Der nackte Christus – Kunstskandal im Kaiserreich
Ob Klinger zu Meißel oder Pinsel griff, er verstand es, durch enthüllte Darstellungen zu provozieren. Besonders seine monumentale Komposition der Kreuzigungsszene mit einer nackten Christusfigur ist dafür exemplarisch. Im von strenger Moral geprägten deutschen Kaiserreich waren solche Gemälde ein Skandal, die konservative Kunstkritik schäumte. Um den

Foto: (c) InGestalt/Michael Ehritt

künstlerischen Affront in den Vordergrund zu rücken, hat man in Bonn die „Die Kreuzigung Christi“ mitten im Raum frei platziert. Das Bild hängt nicht vor einer Wandfläche, der Betrachter kann es umkreisen und sich so schrittweise der Szene nähern. Der Gekreuzigte wird nicht wie üblich in der Mittelachse abgebildet, Jesus wird zur Randfigur – nahe der rechten Umrahmung an ein schiefes Balkenkreuz genagelt. So bestimmt er die nach Klingers Worten „rechte, schwere, nackte Hälfte“.
Das Zentrum wird beherrscht von Maria Magdalena, die gerade in Ohnmacht fällt. Dahinter zwei junge unbekleidete Männer, deren Unterleibe sich aufreizend berühren. Während seiner Präsentation 1891 in München musste das Gemälde zum Teil verhängt werden, später übermalte Klinger den Schambereich Christi mit einem Lendentuch. Er nutzte dafür klugerweise wasserlösliche Farbe, so konnte man das Kunstwerk später wieder unzensiert in Augenschein nehmen.
Es erleichtert die Deutung der Kunstwerke, dass dem Besucher auch ein Blick auf den „privaten Klinger“ vermittelt wird. Da ist einmal die langjährige Liebesbeziehung zu Elsa Asenijeff, einer Schriftstellerin und Frauenrechtlerin, mit der ein intensiver künstlerischer Austausch erfolgte. Sie verfasste eine maßgebliche Studie über den Entstehungsprozess der Beethoven-Skulptur. Das Paar blieb unverheiratet, trotz gemeinsamer Tochter, bis zum Wendepunkt dieser Beziehung im Jahr 1909. Da verliebte sich Klinger in die erheblich jüngere Gertrud Bock, zunächst Modell mit erotischer Ausstrahlung, dann Geliebte und treusorgende Haushälterin, die er kurz vor seinem Tod heiratete.
In dem 46 Blätter umfassenden Grafikzyklus, der in Bonn gezeigt wird, reflektiert Klinger nicht nur das explosive Verhältnis unter den Geschlechtern, sondern auch seine persönliche Situation. Die Zerrissenheit zwischen seiner vertrauten Lebensgefährtin Elsa und seiner jugendlichen Liebe Gertrud, die er ausdrücklich als wichtigste Inspiration für diesen Zyklus bezeichnet. Unstrittig ist, dass beide Frauen auf ihre Weise Klingers Kreativität beflügelt haben. Und es gibt wenige Künstler, die so vielseitig gearbeitet haben. Die Ausstellung macht deutlich, dass Klinger nicht nur Maler, Bildhauer und Grafiker war, er schuf auch dekorative Kunst wie silberne Tafelaufsätze oder gestaltete komplette Innenräume. Gleichgültig, wie oder wo Klinger agierte, man konnte sicher sein, dass er die Konventionen seiner Zeit überschritt.
Max Klinger und das Kunstwerk der Zukunft“, bis zum 31. Januar 2021 in der Bundeskunsthalle in Bonn. Anmeldung per E-Mail an vermittlung@bundeskunsthalle.de www.bundeskunsthalle.de
Luxemburger Wort 61 2661 – Die Warte – Donnerstag, den 1. Oktober 2020
Aus einer anderen Welt
Kulturraum Insel Hombroich präsentiert Terunobu Fujimori – ein Teehaus im
Zusammenspiel von Natur tmd Tradition
Von Rotger Kindermann
Kaum anderswo in Europa ist Japan so präsent wie an Rhein und Ruhr. Über 600 Firmen aus Nippon haben sich hier angesiedelt, darunter mehrere Europazentralen namhafter Konzerne. Jedes Jahr im Mai wird am Düsseldorfer Rheinufer das Japanfest gefeiert, ein spektakuläres Feuerwerk lockt eine halbe Million Zuschauer. Über 8 400 Japaner leben inzwischen in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt. Wie so oft folgten den Investoren die Künstler und Kulturschaffenden, Bauten japanischer Architekten sind heute in aller Munde. Die Düsseldorfer Kunstakademie ist seit den 1990er-Jahren zum Magneten für junge Japaner geworden, einmal, weil sie durch Künstlerpersönlichkeiten wie Joseph Beuys oder Gerhard Richter Weltruf erworben hat – aber auch, weil ein Studium hier im Vergleich zur Heimat wesentlich günstiger ist. Kunstausstellungen mit Japanbezug finden regelmäßig in den Museen von Bonn, Köln oder Düsseldorf statt; prächtige japanische Gärten bereichern vielerorts die Parklandschaften.
Eigenwillige Formensprache
Tadao Ando ist so ein Name, der für Japans Einfluss in dieser Region steht. Auf Einladung des Düsseldorfer Kunstmäzens Karl-Heinrich Müller besuchte der renommierte japanische Architekt bereits 1994 die sogenannte Raketenstation, eine ehemalige NATO-Basis am Stadtrand von Neuss und heute Bestandteil des Kulturraumes Insel Hombroich. Zehn Jahre später wurde hier das von ihm entworfene Ausstellungshaus der Langen Foundation eröffnet, ein lang gestreckter, von einem Glasmantel umhüllter Betonriegel, der sich den topographischen Gegebenheiten anpasst.
Im krassen Gegensatz dazu steht seit Kurzem ein anderer Bau mit einer sehr eigenwilligen Formensprache: Das neue Teehaus von Terunobu Fujimori. Dieser bedeutende japanische Architekturhistoriker, der auch als Architekt international angesehen ist, konnte hier seinen naturnahen Baustil verwirklichen. Nicht Beton und Glas dominieren die Arbeiten, er will „moderne Architektur mit natürlichen Materialien gestalten“. „Ein Stein-Teehaus“ nennt Fujimori seinen Neubau, eine Bezeichnung, die aus dem Buddhismus stammt. Danach kann man die Wirkung eines Steins spüren, er lädt ein zur Reflexion. Fujimoris Gebäude erscheinen oft wie aus einer anderen Welt. Diese Charakterisierung trifft auf sein Teehaus in besonderem Maße zu.
Tief verwurzelte Tradition
Sieben kräftige Stämme wurden in die Erde gerammt, um es wie ein exponiertes Baumhaus in den Himmel zu heben. Da steht das Bauwerk, nur einen Steinwurf entfernt von Andos Glaspalast, ein wenig versteckt auf einem Hügel und erzeugt ungläubiges Staunen bei Besuchern. Ungewöhnlich ist seine dunkle, karbonisierte Holzfassade; mit Ausnahme der schmalen Stahltreppe, die nach oben führt, ist Holz das dominierende Material. So schwebt das Teehaus förmlich auf Höhe der Baumwipfel, emporgehoben durch die beiden Seitenflügel, die an Adler-Schwingen erinnern. Dahinter verbergen sich die bleiverglasten Schiebefenster, wenn sie bei einer Teezeremonie geöffnet werden. Offene Fenster sind für dieses Ritual von großer Bedeutung, denn es soll nach der Tradition des Zen-Buddhismus im Einklang mit der Natur stehen: Reinheit, Stille, Respekt und Harmonie sind die grundlegenden Prinzipien.
Dennoch erlaubt das Teehaus eine gewisse Anpassung an europäische Gebräuche: Die Gäste knien nicht auf Tatami-Matten, sie sitzen vielmehr an einem geschwungenen Tisch, in dessen Mitte die Feuerstelle für die Teezubereitung eingelassen ist. Bis zu sechs Personen finden hier Platz, um sich dem präzisen Ablauf einer Teezeremonie zu unterziehen. In Japan kann der Brauch schon mal viele Stunden beanspruchen. Doch auf der Neusser Raketenstation soll diese Art meditativer Gesprächsrunde erheblich verkürzt werden, versichert Frank Boehm, der Künstlerische Leiter der Stiftung Hombroich und Initiator des Teehaus-Projektes. Die Vorbereitungen für ein eigenes Zeremonie-Angebot – unter erschwerten Corona-Bedingungen – sind kurz vor dem Abschluss. Dann können sich Besucher zu festen Terminen (siehe Kasten) anmelden, um verschiedene Grüntees aus den typischen Schalen zu kosten: Zum Beispiel den dünnen Usucha oder den fast pastenartigen Koicha. Sie werden dabei erkennen, dass eine Teezeremonie keine „triviale Probierrunde“ ist, sondern vielmehr ein Ausdruck tief verwurzelter japanischer Werte und Traditionen.
Harmonie mit der Natur
Diesen Leitbildern begegnet man auch im nahe gelegenen Siza-Pavillon, wo eine Ausstellung Fujimoris Gesamtwerk näherbringt. Gezeigt wird u. a. eine Sammlung alter Teeschalen und anderer Gefäße, die zu einer Teezeremonie gehören. Zu sehen sind ferner die Originalskizzen und ersten Entwürfe für das ‚rheinische Teehaus“. Sie stehen ganz im Einklang mit anderen Teeräumen und Teehäusern, die Fujimori seit 20 Jahren in Japan gebaut hat und die auf Fotos dokumentiert werden. Beeindruckend ist ein Projekt, das er für einen namhaften japanischen Süßwarenhersteller (Ta-neya-Gruppe) realisiert hat. Eine Firmenzentrale, deren Konstruktion vollständig mit der sie umgebenden Natur harmoniert. Dabei liegt es nahe, dass die hier produzierten Süßigkeiten gerne bei Teezeremonien angeboten werden.
Bei Fujimori paart sich offensichtlich die Genialität bei der Verwendung natürlicher Materialien mit einem ausgeprägten Hang zur Ironie. Als Mitbegründer der ROJO-Society (Roadside Observation) sammelt er seit den 80er-Jahren Fotografien von kuriosen Baufehlern, Absurditäten und Planungsmängeln in urbanen Räumen. Es sind Bilder, die belustigen: Regenfallrohre in Schlangenform, unbenutzbare Treppen, missglückte Straßenmarkierungen oder Kanaldeckel mit menschlichem Antlitz. Gezeigt werden sie im kleinen Kinosaal des Siza-Pavillons, ein origineller Ausklang nach diesem Rundgang durch eine andere Kultur.
Die Fujimori-Exponate werden auf der Raketenstation (Stiftung Insel Hombroich) noch bis zum 29. November gezeigt, jeweils Freitag bis Sonntag, 12-17 Uhr. Nach der Winterpause wieder vom 5. Februar bis 11. April 2021 zu gleichen Zeiten. Eintritt: 5 Euro. Teezeremonien jeweils am Freitag ab 2. Oktober, 2-6 Personen, Preis ab 100 Euro.
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| Das Fujimori-Teehaus, eine begehbare Skulptur aus Holz in luftiger Höhe. Foto: Rotger Kindermann |
Vue hebdomadaire | Die Warte | Luxemburger Wort, Donnerstag. den 16. Juli 2020 |

Die Neuerfinderin des Kinos
Chantal Akerman, die Pionierin des feministischen Avantgardefilms – eine Ausstellung

Die Innovatorin
Das „Eye Filmmuseum“ in Amsterdam zeigt mit „Passages“ eine Ausstellung über Chantal Akerman, die Erfinderin neuer Formen des Kinos.
Von Rotger Kindermann
Eine Gemeinsamkeit haben das „Eye Filmmuseum“ in Amsterdam und Chantal Akerman auf jeden Fall: Beide sind außergewöhnlich und beeindruckend. Der lang gestreckte weiße Bau des Eye liegt wie eine designte Luxusyacht auf dem Wasser, im Hinblick auf Eleganz und Lage vergleichbar mit den Opernhäusern in Oslo oder Sydney. Und Chantal Akerman war eine Pionierin des modernen Kinos, sie hat das Medium Film auf ihre Weise revolutioniert.
Noch bis zum 30. August zeigt das Eye Werke der belgischen Filmemacherin und Drehbuchautorin. Doch war Akerman wirklich ‚belgisch“ – nur weil sie 1950 in Brüssel geboren wurde? Ihre Familie kam aus Polen, genauer gesagt aus Tarnów, einem Mittelzentrum östlich von Krakau. Chantals Mutter, Tochter jüdischer Eltern, wurde 1928 hier geboren, zwei Jahre danach zog die Familie nach Brüssel. Ihr späterer Ehemann Jakob Akerman stammte aus Kazimierz, dem bekannten jüdischen Viertel Krakaus. Beide waren Holocaust-Überlebende, er in einem Versteck in Brüssel, sie in Auschwitz.
Dialog zwischen Leben und Tod
Es ist eine Familiengeschichte voller Tragik, dunkler Erinnerungen und beklemmender Tagebücher, die häufig in Chantal Akermans Filmen reflektiert wird. Spielt sie selbst eine Rolle, sieht man sie in der Gefangenschaft einer Wohnung oder eines einzigen Zimmers. Hätte es Akerman gefallen, einen Film über den Lockdown zu Corona-Zeiten zu drehen? In ihren Zellen stecke das Gefühl, sie selbst sitze in einem Gefängnis, sagte sie einmal in einem Interview. Diese Situation beherrscht auch ihre erste Filmerzählung, für die die damals 18-jährige Chantal die enge Küche ihrer Mutter als Drehort nutzte. Mit dem Kurzfilm „Saute ma ville“ (1968, 13 Min. Dauer) beginnt die Eye-Präsentation, ein für manch arglosen Betrachter eher beklemmender Auftakt. Nach rasender Kamerafahrt durch neblig-trübe Straßen betritt eine junge Frau (Chantal Akerman) den Hausflur, holt einen Brief aus dem Postkasten, läuft die Treppen hinauf. Jetzt geht sie in die Küche, Nudeln werden gekocht, anschließend hastig verschlungen. Mal wird Chaos angerichtet, dann wird der Boden gewischt, Schuhe geputzt – mitsamt den eigenen Beinen. Fröhlicher Gesang und Stille wechseln sich ab, die Rituale von Ordnung und Unordnung werden durchexerziert. Am Ende des Films dreht die junge Frau den Gasherd auf, Flammen entzünden den Brief, ihr Körper liegt auf dem Herd. Dann die Explosion – nur ein lauter Knall, kein Bild. Sie sprengt nicht irgendein Zimmer in die Luft, sondern die Küche, damals ein Hort für Mütter und Töchter!
Das Widersprüchliche an diesem Kurzfilm ist seine sprühende Energie, seine Lust an der Aktion und der vom aufgedrehten Gashahn entfachte Todesknall. Oder ein nur hörbarer Donnerschlag, der das Trauma des Überlebens symbolisiert? Von dieser Paradoxie sprach die Pariser Rabbinerin Delphine Horvilleur in ihrer Totenrede auf Chantal Akerman im Oktober 2015. Mit Blick auf die früh Verstorbene meinte sie, es gebe Menschen, die keine Friedhöfe brauchen, um die Nähe des Todes zu spüren, da sie ihn von Geburt an in sich tragen. Das Lebendige und das Tote befänden sich in ihren Herzen in einem unauflösbaren Dialog. Es bleibt eine Frage, ob sich Tod und Leben mehr befruchten, als dass sie sich ausschließen. Eine Antwort gibt die hebräische Bezeichnung für Friedhof, die übersetzt „Haus der Lebenden“ lautet.
Bereits in „Saute ma ville“ zeigt sich Akermans Regietalent, aus dem sie bald ihren eigenen Filmstil entwickelte. Mit dem Mittel langer Einstellungen, Frontalaufnahmen, extremer Kamerafahrten und präzise gerahmter Szenen lädt sie den Zuschauer ein, eine intime Beziehung zu dem gefilmten Bild aufzubauen. Auch bei der Vertonung ging sie eigene Wege.
Es gab einen dominierenden Sound, eine bewusst stilisierte Tonspur, die isoliert wurde. Natürliche Nebengeräusche wurden gegen null gefahren. Damit sollte die Illusion von Realismus von vornherein verhindert werden. Nach Akermans Verständnis waren natürliche Geräusche unerwünscht, weil zwei Personen im gleichen Raum niemals dasselbe hören.
In vielerlei Hinsicht waren ihre Filmarbeiten bahnbrechend. Sie war eine herausragende Künstlerin, weithin bekannt für ihre Videoarbeiten, die u. a. bei der Documenta in Kassel (2002) gezeigt wurden. Seit den 70er-Jahren galt sie als Pionierin filmischer Installationen, lange, bevor diese Form den Kunstbetrieb eroberte. „Akermans Ästhetik der Alltagserfahrung. ihr Überschreiten der Genregrenzen zwischen Spielfilm, Dokumentarfilm und Experimentalfilm, ihr Sinn für Zeiterfahrung jenseits der herkömmlichen Spielfilmdramaturgie machen sie zu einer Neuerfinderin der Formen des Kinos“, schrieb das Deutsche Filminstitut im Vorwort zu einer Akerman-.Lecture“ im Oktober 2018. In den fast 40 Arbeiten dominieren Frauenporträts oder sie haben feministische Themen zum Gegenstand. Dabei distanziert sich Akermans Bildsprache deutlich vom unterhaltenden Erzählkino.

Fotos: Studio Hans Wilschut Courtesy Chantal Akerman Foundation and Maden Goodman Galiery, Paris
Subtiler Blickwinkel und eigener Stil
Ihr weiblicher Kamerablick wird besonders sichtbar in dem Film „Jeanne Dielman, 23, Quai du Commerce, 1080 Bruxelles“, der bedauerlicherweise in Amsterdam nicht zu sehen ist. Tatsächlich sind drei Stunden und 21 Minuten über das eintönige Leben einer Prostituierten einem Museumsbesucher kaum zuzumuten. Aber es gibt von den letzten zehn Filmminuten eine Re-interpretation aus dem Jahr 2001 in Form einer Video-Installation, die das Eye vorführt. Mit der Filmversion von 1975 gelang Akerman der künstlerische Durchbruch. Bei Kennern gilt er als Meilenstein im Filmemachen überhaupt, vor allem, weil hier der Zuschauer unbewusst in die Rolle eines Teilnehmers schlüpft. Aber auch die anderen sieben Filme und Installationen, die das Eye zeigt, sind Kostbarkeiten aus Akermans Gesamtwerk. Darunter ist der Film „Hotel Monterey“, den sie als 21-Jährige während ihrer Reise nach New York drehte. Hier begegnete sie u. a. Andy Warhol, ließ sich inspirieren von der neuen Generation amerikanischer Regisseure und Filmproduzenten. Ihre Vielseitigkeit wiederum wird offenkundig in der Video-Installation „D’est, au bord de la fiction“, die auf dem Dokumentarfilm basiert, der 1993 auf einer Reise durch die ehemalige DDR, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei und Russland entstand. Immer wieder konfrontiert mit der eigene Familiengeschichte zeigt sie eine sich verändernde Welt.
Vermissen muss der Eye-Besucher typische Zeitdokumente aus Chantal Akermans Leben, erkennbar wird sie nur auf Leinwänden und Monitoren. Keine Kamera, mit der sie filmte, oder Fotos von ihren Wirkungsstätten. Keine Manuskripte oder Drehbücher. Kein persönliches Dokument, das den Menschen Akerman näherbringt. Zu lange Zeit blieb sie einem breiten Publikum fremd. Genau das wollte das Eye mit dieser Ausstellung ändern, wie Marnix van Wijk, Pressesprecher des Museums, betont. Doch dann kam die Corona-Pandemie und durchkreuzte diese Pläne. „Nun sind leider viel weniger Leute gekommen, da wir wegen der Abstandsregeln nur eine begrenzte Zahl Besucher zulassen dürfen. Auch die vielen internationalen Touristen, die in den Sommermonaten nach Amsterdam reisen, fehlen uns“, beklagt van Wijk. Dennoch hofft das Eye, bis zum Ausstellungsende zirka 25 000 Besucher zählen zu können.
Wie eingangs erwähnt durchzieht Akermans Arbeiten die Auseinandersetzung mit jüdischem Leben auf vielfältige und reflektierende Weise. Als Regisseurin und Drehbuchautorin gelingt es ihr, autobiografisches Material zum Stoff der Filme zu machen. Die Tochter polnisch-jüdischer Emigranten war prädestiniert dafür, weil ihr Blickwinkel subtiler und nuancierter war – auch für die Anzeichen eines wieder aufkeimenden Antisemitismus. Dass nun ihre Werke in Amsterdam gezeigt werden, erinnert an das Schicksal von Anne Frank, die hier im Exil lebte und ihre Todesfahrt in die Nazi-Vernichtungslager antrat. Hätte es zwischen Akerman und der jungen Tagebuchautorin eine Art Seelenverwandtschaft gegeben? Wir werden es leider nie erfahren.
»Chantal Akerman – Passages“, im Eye Filmmuseum, direkt am Kanalufer (Het 10 gegenüber dem Amsterdamer Hauptbahnhof gelegen. Es ist leicht mit einer kostenlosen Fähre zu erreichen. Eintrittspreis zu Wechselausstellungen: 15 Euro, Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 19 Uhr. wv,w.eyefilm.nI
Filmografie
Folgende Filme und Video-Installationen werden in Amsterdam gezeigt:
.Saute ma ville“,1968,Schwarz/Weiß,13 Min., Inhalt: Wilde Aktionen in Mutters Küche mit Suizid am Ende.
„Hotel Monterey“, 1972, Farbe, 63 Min., ohne Ton, Inhalt: Aufnahmen in Manhattan, hinter jeder Tür eine Geschichte.
”D’Est, au bord de la fiction“, 1995, Farbe, Installation für 24 Monitore, Inhalt: Eindrücke von einer Reise nach Osteuropa.
„Woman sitting after killing“, 2001, Video-Installation für sieben Monitore, Inhalt: Zusammenstellung der letzten Sequenzen ihres Films „Jeanne Dielman“.
„Marcher à côté de ses lacets dans un frigidaire vide“, 2004, Inhalt: Eine spirale Projektion, Notizbuch über Aker-mans Familiengeschichte.
„In the mirror“, 2007, Kurzfilm, Inhalt: Eine junge Frau beschreibt sich selbst.
„Tombée de nuit sur Shanghai“, 2009, Video-Installation, Inhalt: Sonnenuntergang im Hafen, statische Bilder im Neonlicht,
„Now“, 2015, Video-Installation, Inhalt: Diese Abschlussdokumentation ist angelehnt an den Film „No Home Movie“, der das letzte Lebensjahr ihrer Mutter schildert.
Aktuelle Literatur „Chantal Akermans Verschwinden“ von Tine Rahel Völcker, Spector Books Leipzig. 2020, 160 Seiten. Entstehung und Inhalt von sieben ausgewählten Filmen werden hier beschrieben. Zur Akerman-Ausstellung hat das Eye einen ausführlichen Begleitband (160 Seiten) mit zahlreichen Fotos herausgegeben. Er enthält eine komplette Aufstellung ihrer Filme, Installationen und Bücher.
Donnerstag, den 7. November 2019 Die Warte PERSPECTIVES 29 I 2629 Luxemburger Wort
Die Warte
Gestaltung als Instrument des Bösen
,,Design im Dritten Reich“: Wie die Nazis die Massen manipulierten.
Von Rotger Kindermann
Wer über das Thema Design redet, denkt an modeme Gestaltung, an elegante Formen, an Schönheit von Grund auf. Namen wie der kürzlich verstorbene Colani, Le Corbusier, die Gebrüder Thonet oder der Modedesigner Pierre Cardin werden präsent. Der Name Adolf Hitler gehört bestimmt nicht in diese Kategorie. Auch nicht Joseph Goebbels, oberster Agitator im Dritten Reich als „Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda“, oder andere Nazi-Größen. Sie aber stehen synonym über einer Ausstellung, die sich einer sehr speziellen Design-Variante widmet, dem Design des Bösen und Teuflischen. Das Design Museum Den Bosch (im niederländischen s‘-Hertogenbosch) zeigt, wie im Dritten Reich durch Aufmachung, Muster und Choreographie die Menschen manipuliert wurden. Die Nationalsozialisten waren Meister darin, Design zu nutzen, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Es wurde zu einem Instrument ihrer Macht. Nazi-Design prägte Gebrauchsartikel aller Art – von der Streichholzschachtel, dem Volksempfänger bis hin zum VW-Käfer. Nicht nur das Hakenkreuz war ein Beispiel dafür, wie kreative Formgebung in den Händen von Ideologen zum Symbol der Niedertracht wird.

Angst vor Geschichtsrevisionisten?
Kein deutsches Museum hatte bisher den Mut, sich diesem brisanten Thema zu widmen. Geschah es aus Angst vor unerwünschten Besuchern aus dem AfD-Milieu, die noch heute den Holocaust leugnen? Fürchtete man Proteste von Geschichtsrevisionisten, wie sie seinerzeit bei der ,,Wehr- machtsaustellung“ (]995-2004) zutage traten? Es gab auch in s‘-Hertogenbosch ein paar Demonstranten, allerdings aus der linken Szene, die der Museumsleitung unterstellten, sie würde das Thema zu unkritisch darstellen. Davon kann keine Rede sein, auch wenn der Auftakt behutsam gestaltet ist. Direkt am Eingang erblickt der Besucher einen Volkswagen, die Urversion aus dem jahr 1943. Ein zwar winziges Auto, aber seine Lackierung in typischer Tarnfarbe verursacht schon eine Ahnung von militanter Gewalt. Der PKW – damals als KdF-Wagen bekannt – war das wichtigste Projekt der NS-Organisation ,,Kraft durch Freude“, die die Aufgabe hatte, die Freizeit der deutschen Arbeiter zu gestalten, zu überwachen und gleichzuschalten. Der Volkswagen ist ein prägnantes Beispiel für die Politik der Vereinnahmung, ideologisch propagiert als Belohnung für harte Arbeit zum Wohl der Volksgemeinschaft. Er sollte ein für jeden erschwingliches Massenprodukt werden, ein unhaltbares Versprechen, das zu Kriegsbeginn schnell wieder einkassiert wurde. Das für die damalige Zeit geradezu avantgardistische Design hat dazu beigetragen, dass der Käfer in dieser Form von 1938 bis 2003 gebaut wurde und nach wie vor das meistverkaufte Auto der Welt ist. Bemerkenswert ist auch, wie sich dieses Produkt von seiner NS-Vergangenheit befreien konnte.

Aufruf zur Wachsamkeit
Nach diesem fast nostalgischen Einstieg in das Thema trifft den Besucher die ganze Wucht der Geschichte. Knallrote Fahnen, schwarze Hakenkreuze im weißen Kreis, Wahlkampfplakate mit Hitler, Fiihrerfotos mit jubelnden Menschenmassen. Schon nach ersten Eindrücken wird erkennbar, wie sehr die Nazis Design nutzten, um das Böse zu gestatten“, sagt Timo de Rijk, seit zwei Jahren Direktor des Design Museums. Aber wieso hat damals nur eine kleine Minderheit die frevelhaften Absichten hinter den medialen Inszenierungen bemerkt? Fast bei jedem gezeigten Nazi-Utensil, bei jedem Großbild von Parteitagen fragt. sich der Besucher, warum Menschen sich so einfach politisch verführen lassen. Deswegen ist die gesamte Ausstellung ein nachdrücklicher Aufruf zur Wachsamkeit.
Der Gestaltungs-Perfektionismus im Dritten Reich machte auch nicht halt vor Terror und Massenmord. Ein schauriges Beispiel ist der ,,Judenstern“, den alle Juden ab September 1941 öffentlich tragen mussten. Die Ausstellung zeigt verschiedene Design-Entwürfe, die zur Auswahl standen. Dieses Zwangskennzeichen war ein Vorbote für spätere Deportationen in die Vernichtungslager. Ob man allerdings die ausgestellten KZ-Baupläne – nur eine Abbildung primitiver Holzbaracken – unter Design-Perspektive betrachten soll, muss infrage gestellt werden.
Alle Lebensbereiche beeinflusst
Überall haben Nationalsozialisten versucht, Design als Propagandamittel zu verwenden. Auch deshalb kommuniziert die Ausstellung einen breit gefassten Design-Begriff. Er schließt die Architektur von Monumentalbauten, die Choreografie von Großdemonstrationen, Medien und Lehrbücher, Sportkleidung und Uniformen, ja selbst das „Design“ der ersten Autobahnen mit ein. Vermutlich lässt sich nur mit dieser Definition die allumfassende Beeinflussung durch Nazi-ldeologie anschaulich darstellen. Alle Lebensbereiche hatten sich ihr unterzuordnen, wobei Gigantismus, Perfektionismus und Fanatismus einen unheilvollen Einfluss hatten. Beim Design ist die Schriftart ein wichtiger Aspekt. Dazu zeigt das Museum ein interessantes Beispiel der gezielten ,Durchdringung und Gleichschaltung“. Ab 1933 wurde zunächst die ,,Fraktur“ zur verbindlichen Schrift erklärt, nur sie entspreche der deutschen Wesensart. 1941 wendete sich das Blatt, per Führerbefehl wurde die ,Antiqua“ angeordnet. Hitler glaubte, die eroberten Länder würden so ,leichter unsere Sprache lernen.“ Sie werde in 100 Jahren die einzige europäische Sprache sein. Es sind solche Details, die Ausstellungsbesucher immer wieder verblüffen und sprachlos machen.
Hunderte von kleinen und großen Objekten hat man in s‘-Hertogenbosch zusammengetragen, zum großen Teil Leihgaben aus deutschen Museen: Nazi-Geschirr, Riefenstahl-Filme, Hitler-Porträts, Skulpturen, Möbelstücke, etc. – allesamt Produkte aus einer Zeit, deren Grauen heute wieder verharmlost wird. Das Konzept der Ausstellung und die Erläuterungen lassen aber keinen Zweifel aufkommen, dass die Besucher ihre Botschaft verstehen. Zu hoffen bleibt auch, dass sich Museen in Deutschland nicht weiterhin vor diesem Thema scheuen.
,,Design im Dritten Reich“, bis 19. Januar 2020 im Design Museum Den Bosch. Erklärungen in Niederländisch, Englisch und Deutsch Umfangreiches Rdmenprogramm. mvw.designmuseum.nl

Vier Fragen an Timo de Rijk, Direktor des Design Museums Den Bosch
,,Design hat auch dem Bösen gedient“
Welche Erkenntnis hat Sie inspiriert, diese Ausstellung zu machen?
Wir versuchen im Museum, die Bedeutung von Design auf der Welt zu deuten, und wir müssen bei dieser Ausstellung erkennen, dass Design und die davon beeinflusste Kultur auch dem Bösen gedient haben. Dies ist eine ausdrückliche Korrektur der DesignGeschichte und auch ein Aufruf, um in Museen auf diese Weise mit Geschichte umzugehen.
Alle Diktaturen versuchen, ihre Inhalte mit einem politischen Design zu verbinden und zu vermitteln. Worin unterschieden sich dabei die Nationalsoziahsten in ihrer Vorgehensweise?
Das Auffälligste m der Zeit des Nationalsozialismus ist die Kombination einer reaktionären rassistischen Ideologie mit modernsten Mitteln. Das lässt sich gut feststellen im Transportbereich beispielsweise bei Flugzeugen oder Zeppelinen, aber auch bei der Kommunikation, wenn wir an Radiosendungen und Tonfilme denken. Die radikale und penetrante Beeinflussung aller Lebensbereiche war hier besonders extrem.
Welche Einsicht sollte ein Ausstellungsbesucher mit nach Hause nehmen?
Wir erwarten dass Kultur das Gute repräsentiert. Leider müssen wir aber feststellen, dass die Zusammenhänge zwischen Gut und Schlecht sowie Schön und Hässlich viel komplizierter sind, als wir dachten. Die diesbezügliche Verwirrung ist vielleicht die beste und kritischste Botschaft, die ich unseren Besuchern mit auf den Weg geben kann.
Was wissen Sie über die Reaktionen der Besucher? Entsprechen die Zahlen und die Zsammensetzung Ihren Erwartungen?
Ich kann nichts anderes sagen, als dass uns die Vielfalt des Publikums und die Aufmerksamkeit, mit der es schaut und zuhört, bewegen. Die Reaktionen sind durchaus nuanciert und wir merken, dass die Botschaft gut aufgegriffen wird. Wir sind jeden Tag ausverkauft und wenn wir das so fortsetzen können, werden meine Erwartungen noch übertroffen. RK
