Kommentar: 7.10 2024
Ein Totengräber der Freiheit wird hoffähig
Nachdem das Bündnis Sahra Wagenknecht im Januar 2024 gegründet war, gab es allerlei Prognosen. Eine davon lautete, die neue Partei werde massiv Stimmen bei der AfD einkassieren, deren Prozente vielleicht sogar halbieren. Heute wissen wir, AfD und BSW kommen im thüringischen Landtag auf eine Mehrheit von 47 Sitzen (von 88), das BSW hat also zusätzliches Potential bei einer politisch blauäugigen Wählerschaft mobilisiert, die Menschen sind für gebetsmühlenartig vorgetragene Parolen von Friedensdiplomatie gegenüber Putin und Raketen-Abbau in Deutschland empfänglich. Folgen und Fakten reflektieren sie nicht. Dass diese Parteien mit ihren Forderungen letztlich die Totengräber für Freiheit und Demokratie sind, erkennt in Thüringen nur noch eine Minderheit. Man muss sich fragen, ob der Trend an Dynamik gewinnt und sich bald auch in westlichen Bundesländern fortsetzt. Werden wir gar Zeugen einer verhängnisvollen Entwicklung, die an das Schreckensbild von Weimar erinnert? Der chaotische Verlauf der ersten Sitzung des Erfurter Landtags rief durchaus ähnliche aggressive Szenen aus dem Berliner Reichstag der Jahre 1932/33 in Erinnerung. In dieser Situation machen auch noch drei selbst ernannte Weltpolitiker, die Ministerpräsidenten Kretschmer und Woidke und der CDU-Landesvorsitzende Voigt, einen Kratzfuß vor Frau Wagenknecht und ihrem BSW. So werden deren Argumente geradezu hoffähig, statt sich abzugrenzen von einer Partei, die mit populistischen Positionen den Israel- und Judenhass hierzulande befeuert. In der SPD mag sich mancher mit Blick auf den Ukraine-Krieg für die Annäherung begeistern; dass aber Friedrich Merz zu dieser Anbiederung schweigt, ist mehr als betrüblich.
Deutschland ist eine Parteiendemokratie, wie sie Artikel 21 des Grundgesetzes beschreibt. Sie spielen eine zentrale Rolle in unserem politischen System. Dieser Bedeutung entsprechen aber keineswegs die gesetzlichen Vorgaben und Kriterien, die für eine Parteigründung notwendig sind. Das BSW in Brandenburg soll etwa 40 Mitglieder zählen, von einer Repräsentation im sog. „Wahlvolk“ kann da wohl keine Rede sein. Darüber kann auch ein zweistelliges Stimmenergebnis nicht hinwegtäuschen. In keinem einzigen Wahlkreis trat das BSW mit einem Direktkandidaten an. Angesichts solcher Mängel drängt sich die Frage auf, wie künftig Parteigründungen von politischen Agitatoren und Grüppchen verhindert werden können. Parteien ohne ein solides politisches Fundament, das sich u.a. in Mitgliedszahlen ausdrückt, darf es nicht geben. In Brandenburg können gut zwei Millionen Menschen an einer Landtagswahl teilnehmen. Eine Partei, die vom Wahlleiter zugelassen wird, sollte also wenigstens eine Mitgliedschaft von 0,1 Prozent der Wähler haben. Das wären ohnehin nur 2000 Personen, aber nicht 40! Und sie sollte in mindestens der Hälfte der Wahlkreise einen eigenen Direktkandidaten aufstellen müssen. Leider sind die geschmähten „Altparteien“ bisher unfähig zum Konsens, der mit einfachen aber wirksamen Kriterien unsere Demokratie wetterfest macht.
Und geben wir uns bitte keiner Illusion hin, sind wir nicht naiv: Warum sollten AfD und BSW sich in Thüringen nicht irgendwann zu einer Koalition verabreden? 2018 bereits haben in Italien die rechtextreme Lega unter Salvini und die linkspopulistische 5-Sterne Bewegung ein Regierungsbündnis geschlossen. Die folgende politische Entwicklung bis heute, hin zur Wahl von Ministerpräsidentin Georgia Meloni aus einer postfaschistischen Partei sollte uns alarmieren. Gehen auch bei uns die Zeiten einer gefestigten Demokratie zu Ende?
Blog der Republik, Kommentar, 20.6.22
Rückt Europas Spaltung näher?
Rotger Kindermann
Nun darf die Ukraine Beitrittskandidat der EU werden. Vorausgesetzt, beim nächsten Europäischen Rat stimmen alle Mitglieder zu. Doch da könnten wir noch Überraschungen erleben, wenn man an die bereits mehrfach praktizierten Störfeuer aus Ungarn denkt. Dann wäre das Gastgeschenk, das Macron, Scholz und Draghi bei ihrer Reise nach Kiew mitgebracht haben, plötzlich wertlos. Der Besuch der drei „Appeasement*-Politiker“ hinterlässt dort ohnehin einen faden Beigeschmack. Aus Selenskyis Sicht kamen da die Runde der Verzagten aus dem „alten Europa“: Einer, der Putin nicht demütigen will, einer, der „auch Waffen“ verspricht und deren Lieferung verzögert und einer, der Friedenspläne schmiedet, ohne sie mit dem Angriffsopfer zu besprechen. Es half ebenso wenig, dass in letzter Minute der farblose Johannis aus Rumänien als „osteuropäisches Feigenblatt“ auf den Zug nach Kiew sprang. Wieso, so fragen sich politische Beobachter, reiste Scholz nicht mit den Teilnehmern des – mit vielen Lobreden bedachten – „Weimarer Dreiecks“ gemeinsam nach Kiew, wenn er sich nicht alleine traut? Frankreich, Polen und Deutschland, das wäre ein politisch repräsentativer Querschnitt gewesen, der nicht zur weiteren Spaltung Europas beiträgt. Europäisch zu denken und zu handeln, warum ist das bloß so mühsam?
In Kiew kursiert schon länger das Gerücht, dass es eine informelle Vereinbarung zwischen Scholz und Putin gebe. Im Kern geht es darum, dass Putin Kanzler Scholz versprochen hat, an der Grenze der Donbass-Region den Angriff zu stoppen. Deutschland würde schwere Waffen erst liefern, wenn der russische Angriff weiter fortgesetzt wird. Das meinte vermutlich Selenskyi, als er kürzlich in einem ZDF-Interview mit Blick auf Scholz vom „politischen Spagat“ sprach. Scholz kennt diese Gerüchte, vielleicht handelt es sich um lancierte Unterstellungen. Er dementiert sie aber nicht, lässt das Publikum lieber im Unklaren. So hinterlässt seine Haltung zum Ukraine-Krieg permanent einen diffusen Eindruck, undurchsichtig und verschwommen. Der Kanzler begreift nicht, dass die Menschen gerade in Extremsituationen von ihrer Regierung einen klaren Kurs erwarten. Entweder: Deutschland bleibt konsequent und liefert auch in diesem Fall keine Waffen in Krisengebiete. Außerdem ist die Ukraine kein NATO-Mitglied. Oder: Wir liefern alle notwendigen wirksamen Waffen, weil es in diesem Krieg um Europas Freiheit, Demokratie und Unabhängigkeit geht. Stattdessen diskutieren wir in nahezu jeder Talkshow über Waffenbeschaffung, Scholz zählt im Bundestag jede gelieferte Patrone auf und seine Verteidigungsministerin nennt ständig andere Begründungen, warum „das schwere Gerät“ noch nicht in der Ukraine angekommen ist. Diese öffentliche Diskussion ist vollkommen unverantwortlich, wenn der Gegner Putin heißt. Der Kriegsherr im Kreml wird sich köstlich amüsieren.
Der deutsche Nebelkurs verursacht besonders in Kiew (aber auch europaweit) ein tiefes Misstrauen gegenüber der Bundesregierung, es konnte auch mit diesem Besuch nicht ausgeräumt werden. Fast noch schwerer wiegt, dass die unmittelbar bedrohten Nachbarn, die Balten, Polen und andere, sich nicht einbezogen fühlen von dieser Art selektiver Diplomatie. Sie haben – aufgrund ihrer Geschichte in den letzten 70 Jahren – schneller begriffen, dass es keineswegs um die Frage geht, ob die Ukraine als Land diesen Krieg nicht verliert oder gewinnt oder…. Für sie (und alle Europäer geht) geht es dabei um fundamentale Prinzipien, den Erhalt von Freiheit und Demokratie. Die sinkende Zustimmung in Deutschland für die Lieferung von Waffen an die Ukraine lässt daran zweifeln, ob hierzulande diese substanzielle Bedrohung erkannt wird. Putin wird nicht ernst genommen, vermutlich erst dann, wenn seine Truppen an der Oder stehen? Mit solch selbstbezogenen Ansichten wird Europa im Stich gelassen. Und Putin kommt seinem Ziel, die EU politisch zu spalten, wieder einen Schritt näher.
*Appeasement-Politik (Beschwichtigungspolitik) betrieb der brit. Premier Neville Chamberlain (1937-1940) gegenüber Nazi-Deutschland, s. Münchner Abkommen, das wenig später von Hitler gebrochen wurde.